James Shapiro, Contested Will

Besprochen von Tom Hunter

Fangen wir mit der guten Nachricht an. Die gute Nachricht ist, dass James Shapiro, ein führender orthodoxer Shakespeareforscher, Professor an der Columbia University in New York, ein Buch, Contested Will , geschrieben hat; zum ersten Mal hält es ein etablierter orthodoxer Shakespeareforscher für angebracht, sich bis zu einem gewissen Grad mit den Oxfordianern und der Geschichte des Oxfordianismus vertraut zu machen. Die schlechte Nachricht ist, dass die Vertrautmachung nur bis zu einem ungewissen Grad stattgefunden hat und seine Darstellung des Oxfordianismus durchwirkt ist mit Verdrehungen, Verzerrungen und Entstellungen.  

Shapiro hat einen inneren Hund überwunden, denn er prangert die manchmal unterschwellig bis offen schäbige und fast immer arrogante Weise an, in der die etablierte Shakespeareforschung mit jenen umspringt, die auf einer öffentlichen Debatte der Verfasserschaftsfrage beharren. Im Laufe seiner Darstellung jedoch gibt sich Shapiro nicht selten als kaum weniger schäbig und arrogant zu erkennen als die von ihm kritisierten orthodoxen Forscher. Was als eine joviale und schier kollegiale Ouvertüre einsetzt, wechselt alsbald in die vertrauteren harschen und schrillen Töne über, die man gemeinhin von den Stratfordianern vernimmt, wenn sie im Feuerwehreinsatz gegen Zweifler an der Berechtigung ihres Standpunktes sind.

Qua Anlage und Resultat liefert uns Contested Will nach Alan Nelsons dämonisierender Biografie Oxfords ein weiteres Beispiel professoraler Agitprop.

Was Shapiro zu bieten hat, ist alles andere als eine inhaltliche Analyse der mit der Verfasserschaft verbundenen Probleme.  Nirgends wägt er Pro und Kontra ab. Seine Methode: Er knüpft sich angesehene Persönlichkeiten der Geistesgeschichte vor, die ihre Zweifel an der orthodoxen Zuweisung der Verfasserschaft offen zum Ausdruck gebracht haben. Er fragt nicht nach den Gründen, die sie zum Zweifel bewogen haben: Er schürft nach den „Untergründen", sozusagen nach den Motiven, die ihnen selbst nicht bewusst gewesen sein sollen.  Dass sich ein solches Verfahren leicht in Projektionen verirren kann, ist bekannt. Bekannt ist weiter auch, wie man für sich selbst die Returkutsche, selbst zu projizieren, abwenden kann: Indem man eben der abweichenden Ansicht des Kontrahenten, der sich in diesem Fall oft nicht mehr wehren kann, das Etikett Projektion deklarativ und plakativ aufklebt. Die Folge: eine Kette von ad- hominem-Attacken aus dem Hinterhalt - schlicht und ergreifend.

Substantielle Argumente für den wahren Verfasser gehen dadurch über den Jordan, da allein das Bezweifeln der herkömmlichen Verfasserschaftszuweisung als abweichendes und letztlich quasi-pathologisches Verhalten postuliert wird. Die Aufgabe, auf die Shapiro sich beschränkt, reduziert sich damit auf das Aufdecken der verborgenen Motive solch abweichenden Verhaltens. Einmal aufgedeckt, einerlei ob projiziert oder analysiert, falsch oder wahr, wird die eigene Meinung ins rechte Lot zurückgerenkt oder -verrenkt.

Shapiros Kernfrage lautet: Wieso haben soviele Leute nach zwei Jahrhunderten zu zweifeln begonnen, ob Shakespeare die Stücke wirklich schrieb? Er fragt nicht, ob diese Zweifel berechtigt sein könnten. Er will die Einstellung der Zweifler berichtigend richten.

Eine ähnliche Frage auf einem anderen Wissensfeld könnte lauten: Wieso begannen nach vielen Jahrhunderten so viele Menschen zu bezweifeln, dass sich die Sonne um die Erde dreht?

Auf beide Fragen lautet die Antwort: Weil  es sich als einzige rationale Erklärung aller bekannten Phänomene aufzwang. Doch wie dereinst die katholische Kirche und die Inquisition zieht es Shapiro vor, die Zweifler am alten Weltbild zu verfolgen, statt zu versuchen, sich gegen die Flut der Beweise wider sein bisheriges Verständnis mit sachlichen Argumenten zu stemmen.

Bei dem von ihm gewählten Ansatz muss es sich Shapiro gefallen lassen, dass danach gefragt wird, was denn seine verborgenen Motive sein könnten, die Gründe für das Zweifeln an der tradierten Verfasserschaft nicht in der Sache selbst, sondern in der Psyche der Zweifler zu suchen? Wir werden darauf noch zurückkommen, wenn wir uns der Art und Weise zuwenden, wie Shapiro mit dem Honig und Leim seiner Meta-Problemsetzung die Fürsprecher für eine Wiederaufnahme des Autorschaftsverfahrens am Fliegenfänger verenden zu lassen hofft.

Sigmund Freud, der sich bis zuletzt, teils gegen den heftigen Widerstand seiner Schüler wie Ernest Jones und Freunde wie Stefan Zweig, zu der Oxford-Kandidatur bekannte, ist der Pfahl im Fleisch der Stratfordianer. Obwohl Freud selbst die Verfasserschaftsfrage nie zum Gegenstand seiner Forschungen gemacht hat und Oxfordianer sich in der Sache deshalb recht selten auf ihn berufen, widmet ihm Shapiro zwei Kapitel, insgesamt 18 Seiten, um  Freuds Obsessionen und Fetischismen, die ihn als einen weiteren oxfordianischen „lunatic" oder „Spinner" antanzen lassen.

Shapiro zufolge war Delia Bacon die früheste unter den Abweichlern; sie schmachtete nach Ruhm... und wurde irre. Mark Twain war getrieben von Selbstdarstellung, besessen von seinem Vermächtnis an die Nachwelt und geprägt von einem Faible für Zwillinge, Betrüger und Decknamen; er selbst kupferte ab bei Sir George Greenwood; er glaubte an Chiffren. Shapiro zeigt sich galanter und freundlicher gegenüber der taubblinden Schriftstellerin Helen Keller (1880-1968), aber da sie ebenfalls an Chiffren glaubte, kriegt sie auch einige Spritzer von seinem Entweihwasserquast ab. Henry James sei nur daran interessiert gewesen, kraftvolle Fiktionen zu schaffen und wie Mark Twain war auch er von seinem eigenen Genie und Vermächtnis erfüllt und geblendet.

Bei John Thomas Looney treibt Shapiro religiöses Eifertum hervor. Andere Motivationen, die Shapiro bei namhaften Dissidenten entdeckt haben will, sind: übermäßiger Egozentrismus, Gewinngier und Verrücktheit. Wahrheitsliebe als     mögliches Motiv für eine Beschäftigung mit der Verfasserschaftsfrage kommt bei Shapiro nie in Frage, niemals. Ohnehin ist das für ihn wohl Zelotentum. Seine Botschaft lautet: Leute mit solcher Motivationsstruktur können nicht ernsthaft als Bürgen für die Berechtigung der Frage nach der Verfasserschaft der Shakespeareschen Werke gelten.

Naturgemäß kann bei Shapiro nicht die Rede von einer echten Auseinandersetzung mit der langen Geschichte fleißiger oxfordianischer Forschung sein, wie da u. a. sind : Dr. Earl Showermans Nachweis von Shakespeares Benutzung klassischer griechischer Quellen, Robert Detobels Studien über das Publikationsverhalten aristokratischer Autoren und  Autorrechte,  Dr. Noemi Magris brillante Artikel über Shakespeares Intimkenntnisse von Venedig und Italien oder Nina Greens, Barbara Flues', Robert Brazils und Christopher Pauls Studien zu Originaltexten und Primärdokumenten sowie Greens, Brazils und Pauls Kritik an Alan Nelsons schlampert recherchierter Oxford-Biografie.

Shapiro verunglimpft auch Roger Stritmatters bahnbrechende Dissertation mit der Behauptung, der Prüfungsausschuss sei lamentabel informiert gewesen. Die Forschungsarbeiten von Stritmatter und Lynne Kositsky, die das Problematische an der traditionellen Datierung von Shakespeares Sturm aufdecken, - eine Datierung, die, weil nach Oxfords Tod 1604,  als entscheidendes Hurrah-Belastungszeugnis gegen eine Verfasserschaft Oxfords hypertrophiert worden ist. Oxfords Todesjahr ist ein Argument, von dem Shapiro auch sonst ausgiebig Gebrauch macht.

Shapiros Kurzgeschichte des Blackfriars-Theaters verschweigt Oxfords Rolle just dort in den 1580er Jahren mit den Kinderensembles, wie Katherine Eggar nachweist.

Ein Oxfordianer, der in Shapiros einschlägigem Kapitel seinen Auftritt hat,  kann gewiss sein, mit Anspielungen, Zerrbildern und abfälligen Bemerkungen traktiert zu werden. Charles Wisner Barrells Pionierstudie über das Ashbourne-Porträt, die im Januar 1940 im Scientific American erschien, wird von Shapiro als "Behauptung" abgetan, die später als „einen eklatanten Fall vom Wunschdenken" widerlegt worden wäre.  Shapiro bejaht Folgers zögerliche Versuche, Barrell zu widerlegen, was ihrerseits Barbara Burris zurückwies, wie die New York Times berichtete.

Die bedenkenlose Präsentation von Meinungen als Tatsachen zieht sich durch das ganze Buch. Um nur ein kleines, aber kennzeichnendes  Beispiel anzuführen:  Man fragt sich verwundert, welche Dokumente Shapiro zur Hand hat für seine Aussage, der Mann aus Stratford könnte mit der höfischen Etikette durch seine „vielen Besuche in königlichen Palästen" vertraut gewesen sein. Und so erklärte sich denn wohl, dass der Name des „Hofdichters" Shakspere in den recht detailliert dokumentierten Ereignissen am Hof und in den Briefen des Zeitzeugen John Chamberlain, eine Art Zeitung avant la lettre über die Verhältnisse am Hof,  kein einziges Mal vorkommt.

Die  logischen Bocksprünge und windgetriebenen Forschungsdrachenflüge nehmen in diesem Buch kein Ende und können vielleicht als Kontraindikation für die gute Arbeit gewertet werden, die abseits der etablierten Forschungspfingstgemeinde geleistet worden ist. Denn alles in allem ist die Aufmerksamkeit, die ihren Arbeiten von einem der Gesalbten des Establishments zuteil wird, wie unerfreulich dargestellt auch immer, letztlich doch ein Zeichen für das rheumatische Zwicken, das sie im etablierten Standbein der Forschung ausgelöst haben.

Einer der famosesten Zirkelschlüsse, die sich Shapiro genehmigt, ist: dass Shaksper (meine Schreibweise)  die Werke schrieb, stünde unumstößlich fest, da sein Name auf den Titelseiten seiner Werke erscheint.

Hat  man sich aber einmal festgelegt, dass Shaksper und Shakespeare identisch sind, bleibt nichts anderes mehr zu tun, als eben fest liegen zu bleiben und Indizien, die dies bestätigen, als unwiderlegbare Beweise zu postulieren, während Indizien, die dagegen sprechen, extraterritorial zu entsorgen sind. In dem Augenblick aber, wo man die Möglichkeit zulässt, Shakespeare sei ein Pseudonym gewesen, erscheinen die orthodoxen Gewissheiten selbst als Pseudogewissheiten. Eine ausgezeichnete Vorlage für eine solche Übung bietet Samuel Schoenbaums William Shakespeare: A Compact Documentary Life (1977). Man gehe das Buch durch, Seite für Seite, Absatz für Absatz, Dokument für Dokument, und versuche in dem „Kompakt" ein einziges Beispiel zu finden, das Shaksper als den Dichter Shakespeare identifiziert.  

Eine von Shapiros eigenen sehr merkwürdigen Prädispositionen besteht in seiner Auffassung von Wissenschaft als einem Wettbewerb und nicht vom Willen zum Wissen oder zur Wahrheit gelenkten Unternehmen. Überträgt man diese Auffassung auf die elisabethanischen Stückeschreiber, läuft dies darauf hinaus, dass diese Autoren, Shakespeare eingeschlossen, ihren Impuls nicht von dem Ziel bezögen, Kunstwerke zu erschaffen, sondern von Marktwettbewerb, Profitstreben und Zuschauerbeifall. Die Auffassung sagt wohl mehr aus über Shapiros eigene Beweggründe als über die Persönlichkeit und das Werk Shakespeares.

Nach  gut zweihundert Seiten wird deutlich, wohin Shapiros Methode führt, und wir beginnen zu ahnen, dass in seinem Buch in Wirklichkeit sehr wohl von jener Person die Rede ist, die Shapiro in Bezug auf den Autor Shakespeare aus der Wirklichkeit verbannen, in Bezug auf den Autor Shapiro dagegen in den Vordergrund bringen möchte. Es liegt uns fern, Shapiros Methoden anzuwenden, doch täten wir es dennoch, wir würden sagen, dass das verborgene Motiv, die Prädisposition dieses Buches bei jeder Insinuation und Attacke von Mal zu Mal deutlicher hervorscheint: Shapiro wünscht den legendären Edmond Malone als Fahnenträger der rechten Shakespeare-Lehre zu ersetzen!

Denn es war Malone, so Shapiro,  der den Grundstein für den Kult um die Person Shakespeare gelegt hat, nämlich die Vorstellung, dass die Stücke und Gedichte autobiografische Spuren enthalten müssten.

Malone, der Adam der Shakespeareforschung, war Shapiro zufolge auch Urheber der Erbsünde, der die Sintflut unheilsamer und fehlgeleiteter Neugier nach der Person selbst des Mannes, der unter dem Namen Shakespeare schrieb, folgte. Malone ist es, der die Fälscher Vater Samuel Ireland uns Sohn William Henry (der sich ebenfalls Samuel nannte) heraufbeschwor, der den Weinhändler-Schauspieler David Garrick  zum Shakespeare-Spektakelveranstalter David Garrick machte (als Garrick 1769 das um fünf Jahre verspätete Jubiläumsspektakel  anlässlich des 200. Geburtstages Shaksperes veranstaltete, stand Malone allerdings noch ganz am Anfang seiner Karriere als Shakespeareforscher), der die Schritte des Ödipus-Komplex-Goldsuchers Freud nach Shakespeareland lenkte, der den Spürhund Looney nach einem würdigeren biografischen Nachfolger schnüffeln ließ.

Shapiro versucht Malones „Irrweg" zu korrigieren, indem er uns versichert, dass Schriftsteller jener Ära einfach bemüht gewesen wären, alles Persönliche von ihrem Werk fernzuhalten, und Shakespeares herrliche Literatur rein durch Genie und Einbildungskraft zu erklären sei.

Ist all dies letztlich nur Shapiros manischer Versuch, den Nimbus der Shakespeareforschung vom ehrwürdigen Haupt des Heiligen Malone zu reißen?

Bestürzend wird es dann, wenn Shapiro von Malone die Brücke nach der Oxfordianerin Eva Turner Clark schlägt und ihr ankreidet, bestrebt gewesen zu sein, den Malone des Oxfordianismus zu werden. Für diese Unterstellung bietet Shapiro keinen einzigen Beleg an. Wozu denn, wenns sich so gut anhört? So sehr ist er damit beschäftigt, Malone von seinem Sockel herunterzuholen, dass er einen dieser Anspielungspfeile, vor denen es in seinem Buch wimmelt, nun gegen Clark abschießt. Eine inhaltliche Diskussion von Clarks Arbeiten zur Chronologie der Stücke  oder ihr bahnbrechendes Werk über verborgene Anspielungen in Shakespeares Stücken (Hidden Allusions in Shakespeare's Plays, Erstausgabe 1931, Neuausgabe 1974 durch Ruth Loyd Miller) findet nicht statt. Er fertigt sie einfach ab als eine, die sich Malones Mantel im Dienste des Oxfordianismus habe umhängen wollen.

Das Übel an Shapiros „Entmannung" Malones ist, dass er damit auch ein sinnvolles Verständnis des künstlerischen Schöpfungsprozesses kastriert. Denn nach ihm wären die persönlichen Erfahrungen des Verfassers in dieser Beziehung allemal ...wurscht! Shakespeare könnte es alles vom Hörensagen kennen. [Vielleicht, ist man versucht, sarkastisch zu ergänzen, kannte Shaksper sich selbst als Shakespeare auch nur vom Hörensagen.]  Wie immer - Shakespeare könnte sich bei seinen gelegentlichen Besuchen am Hofe herumgehört haben, wie da so die Redeart war; oder könnte sich im Buchhändlerviertel Saint Paul's Churchyard herumgesehen und in der einen oder anderen Quelle herumgelesen haben; oder in der Taverne „The Mermaid" sich gemeinsam mit seinen Schauspielerkollegen und einigen Theater liebenden Aristokraten herumgetrieben und alles Nötige über die Falknerei und über Italien gelernt haben. Aber würden seine Stücke dann nicht verraten, dass er all dies aus zweiter Hand schöpfte? Denn darauf läuft Shapiros These hinaus: Shakespeare schöpfte, er schuf nicht. Ben Jonson - das sagt uns der anonyme Verfasser des um 1602 geschriebenen Stückes The Return from Parnassus - war „ein reiner Empiriker, einer, der das, was er hat, aus der Beobachtung gewinnt und nur die Natur in seine Werke einweiht; einer, dessen Kreativität so träge voranschleiche, dass er besser daran täte, zu seinem alten Maurerberuf zurückzukehren und Ziegelsteine aneinanderzulegen" (I.2).  Shakespeare war nicht nur „Natur", d. h. seine Kunst ging über die Natur, über das Beobachtete hinaus. In der 1623er Folioausgabe wird dies gleich zweimal betont. Im Vorwort - vermutlich von Ben Jonson verfasst - heißt es: „Er, da er ein begnadeter Imitator der Natur war, vermochte ihr höchst feinsinnig Ausdruck zu geben." Und in dem Lobgedicht, ausdrücklich von Jonson selbst: „Doch darf ich der Natur nicht Alles geben,/Auch Deine Kunst, Shakespeare, muss ich erheben;/ Denn ist auch Stoff des Kunstwerks die Natur,/Wird Stoff zum Kunstwerk durch die Form doch nur." Karl Elze hat diesen Unterschied zwischen Jonson, „der nur die Natur in seine Werke einweiht" und Shakespeare, der den Stoff der Natur durch seine Kreativität umbildet, in Bezug auf die Verarbeitung italienischer Stoffe bestens herausgearbeitet.

Aber diese „Natur", die „Beobachtung" ist bei Shakespeare ebenfalls vorhanden, wenn auch in künstlerisch veredelter Form. Die Einbildungskraft bildet nicht aus sich selbst heraus, gleichsam in parthenogenetischer Weise. Es ist gerade Shakespeares tiefsinnige Verarbeitung menschlicher Erfahrung, beides: die Paarung von Natur und Kreativität, die den genialen Dramatiker Shakespeare erklären. Seine Königsfiguren sind komplex, in sich widersprüchlich, zerrissen oft, und das macht aus ihnen Könige von Fleisch, Blut und Seele, weil sie zur „Natur" des Verfassers gehören, zu seiner Erfahrungswelt, macht mächtige Könige zu schwachen Menschen wie Richard II. und Heinrich VI .

Erfahhrungsgrund? Wie will man denn diesen Erfahrungsgrund aus dem Sonett 29 wegleugnen:

"When, in disgrace with fortune and men's eyes,
I all alone beweep my outcast state
And trouble deaf heaven with my bootless cries
And look upon myself and curse my fate"

(„Wenn mit Fortuna und Menschenaug' verstört,/ Einsam ich mein Ausgestoßensein beklag', /Umsonst dem Himmel fleh', der mich nicht hört,/ Mein Los verfluche und mir selbst entsag'") ?

Oder das rebellische Sonett 121:

 "No, I am that I am, and they that level/
At my abuses reckon up their own"

(„Nein, ich bin, der ich bin, und die da zeigen,/Auf meine Fehler, wiegen die eignen auf")? Wie wiegt denn ein Literaturprofessor wie Shapiro, dem doch ein Gefühl für Shakespeares Ausdruckskraft und -reichtum unterstellt werden muss, solche Zeilen gegen den läppischen Vierzeiler auf Shakspers Grab in Stratford auf: „Lieber Freund, um Jesus' Willen lass das sein, usw."?

Shapiros Buch verdient mehr Aufmerksamkeit, als ihm hier gewidmet worden ist. Der Verfasser hat sich nicht damit begnügt, den enormen Korpus der Werke über die Verfasserschaftsfrage einfach verächtlich vom Tisch zu fegen. Er hat einen Schritt darüber hinaus gesetzt, wenn auch keinen großen Schritt. Denn eine wirklich faire Bestandsaufnahme ist ausgeblieben; nicht einmal die Grundlagen sind angemessen ins Licht gerückt worden. Das Buch genügt deshalb wissenschaftlichen Ansprüchen nicht, weil es letztlich doch intendiert, den Oxfordianismus zu schurigeln, statt die Probleme der Verfasserschaft anzugehen und die von den Oxfordianern geleistete Arbeit wirklichkeitsgetreu abzubilden. Shapiros Buch muss einer ähnlichen Analyse unterzogen werden wie vor sieben Jahren Alan Nelsons unseriöse Biografie Monstrous Adversary. Viele der Argumente, die Shapiro für den Mann aus Stratford ins Feld führt, halten einer ernsten Prüfung nicht stand. Nahezu lächerlich ist seine Behauptung, einen Autor durch sein Pseudonym zu identifizieren, komme einer Lüge gleich. Ist es denn eine Lüge, vom Autor Mark Twain statt vom Autor Samuel Langhorne Clemens zu reden? In seinem ausführlichen Abschnitt über Mark Twain erwähnt Shapiro selbst den Namen Samuel L. Clemens kaum!

Also sieht so die Strategie aus, mit der einer der prominentesten selbsternannten Kreuzzügler gegen das Stellen der Verfasserschaftsfrage zu Felde zieht, um ein für allemal die Diskussion um den wahren Autor den Garaus zu machen: nicht indem er nach einer befriedigenden Antwort auf die aufgeworfenen Fragen sucht, sondern indem er die psychische Verfassung der Zweifler an dem orthodoxen Standpunkt zu pathologisieren sucht. Sein Problem wird es sein, dass die Schar solcher „krankhaft Veranlagten" von Tag zu Tag größer wird. Werden wir demnächst vielleicht erleben, dass sich Shapiro der persönlichen Obsessionen einiger Richter des Obersten US-Gerichtshofes annehmen wird, die erklärt haben, dass Zweifel berechtigt sind (und in einem Fall, dass sie mehr als berechtigt sind)?

Es wird der Tag kommen, dass orthodoxe Befürworter des traditionellen Barden wie Professor Shapiro gewisse Fragen werden beantworten müssen,  zufriedenstellender, weniger geschwätzig und luftig als Shapiro es in diesem Buch und Bill Bryson es in seinem Buch getan hat.  Anders als von Bryson, der ja nur eine Lücke in einer Kurzbiografienreihe zu büßen hatte,  bringt Shapiro einiges mehr an Qualifikationen mit. Die Oxfordianer hatten freilich mehr erwartet von einem der weltweit anerkannten Shakespeare-Experten. Jenseits der ad-hominem-Attacken indessen gähnt eine unbelehrbare Leere. Wer mehr über Geschichte und den derzeitigen Stand der Verfasserschaftsdebatte zu erfahren wünscht, lese lieber Warren Hope und Kim Holstons neulich überarbeitete The Shakespeare Controversy. Shapiros Buch bleibt letztlich eine Schelte der freundlicheren Art, aber eine Schelte, wie immer vornehm im Ton, bleibt eine Schelte und trägt wenig zur Debatte bei.

R. Thomas Hunter, PhD ist Supervisor bei einer Versicherungsgesellschaft Makler/Händler in Farmington Hills, MI und ein University of Michigan Hopwood-Preisträger.  Er steht dem Oberon Shakespeare Study Group vor, die es sich zur Aufgabe gesetzt hat, über die Verfasserschaftsfrage das Verständnis und die Einschätzung der kulturellen Einordnung von Shakespeare zu vertiefen. Hunter schrieb einen Artikel, "Contesting Shapiro" über James Shapiros damals vor dem Erscheinen stehenden Buch Contested Will: Who Wrote Shakespeare? für die Herbstausgabe 2009 des Shakespeare Fellowship Newsletter, Shakespeare Matters (8:4).

Übersetzt von Robert Detobel